Viele Menschen kennen sie: die empfundene Erschöpfung nach einem Gespräch mit bestimmten Personen. Schnell fällt dann der Satz: „Du raubst mir Energie.“ Auf den ersten Blick erscheint dies plausibel. Doch aus psychologischer Sicht ist diese Formulierung problematisch und inhaltlich unpräzise.
1. Energie ist subjektiv, nicht übertragbar
Psychologisch betrachtet ist „Energie“ keine physische Ressource, die andere Personen einem entziehen können. Unser subjektives Erleben von Erschöpfung, Stress oder Anspannung entsteht immer innerhalb unseres eigenen Systems.
Gefühle wie Müdigkeit, Überforderung, Frustration oder Erschöpfung sind das Resultat der eigenen emotionalen Verarbeitung, nicht das direkte Resultat des Handelns einer anderen Person.
Kurz gesagt: Niemand kann einem anderen Menschen buchstäblich Energie wegnehmen.
Wir können höchstens unsere Reaktion auf eine Situation oder einen Menschen verändern und so unser eigenes Energielevel beeinflussen.
2. Emotionale Reaktionen sind Verantwortungssache
Die Annahme, dass jemand anderes uns Energie „nimmt“, verschiebt die Verantwortung weg von uns selbst. Psychologen sprechen hier von einer externalisierten Wahrnehmung: Wir sehen die Ursache für unsere Gefühle ausschließlich im Verhalten anderer, statt in unserer eigenen Wahrnehmung und Reaktion.
Fakt ist: Unsere emotionale Regulation – wie wir auf Stress, Kritik oder Konflikte reagieren – liegt in unserer eigenen Hand.
Methoden wie Achtsamkeit, Selbstreflexion und Grenzen setzen helfen, das eigene Energielevel stabil zu halten, unabhängig von äußeren Einflüssen.
3. So entsteht das Gefühl des „Energieentzugs“
Warum fühlen wir uns dann manchmal tatsächlich ausgelaugt? Häufige Gründe sind:
- Emotionale Spiegelung: Menschen neigen dazu, die Emotionen anderer aufzunehmen (Empathie), was kurzfristig belastend wirken kann.
- Stress und Konflikte: Konfliktreiche oder anstrengende Interaktionen fordern unsere psychische Energie, weil wir sie innerlich verarbeiten.
- Ungeklärte Erwartungen: Wenn Bedürfnisse und Grenzen nicht klar kommuniziert werden, entstehen Spannungen, die wir als „Energieverlust“ interpretieren.
All dies passiert innerhalb unseres eigenen Systems – nicht durch eine fremde „Energieübertragung“.
4. Kompetenz statt Opferrolle
Eine fachlich fundierte Alternative zu „Du raubst mir Energie“ wäre beispielsweise:
- „Ich fühle mich nach unserem Gespräch erschöpft und brauche eine Pause, um mich zu regenerieren.“
- „Ich merke, dass dieses Thema mich belastet. Ich möchte es später weiter besprechen, wenn ich mehr innere Ressourcen habe.“
Diese Formulierungen übernehmen Verantwortung für die eigenen Gefühle und fördern gesunde Interaktion, statt die Verantwortung auf andere abzuwälzen.
5. Fazit
Die Vorstellung, dass andere Menschen uns buchstäblich Energie „rauben“, ist psychologisch nicht haltbar. Was wir als Energieverlust wahrnehmen, ist die Folge unserer eigenen emotionalen Verarbeitung, Empathie oder der Art, wie wir mit Stress umgehen. Die Verantwortung liegt bei uns – und diese Erkenntnis gibt uns die Macht, unser Wohlbefinden aktiv zu steuern.
Fazit: Niemand kann uns Energie nehmen – wir selbst entscheiden, wie wir mit äußeren Reizen umgehen.